Erfordert Selbsterkenntnis ein komplexes Gehirn?
Der Computer, das Smartphone oder ein anderes elektronisches Gerät, auf dem Sie diesen Artikel lesen, hat eine rudimentäre Gehirnart. Es verfügt über hochorganisierte elektrische Schaltkreise, die Informationen speichern und sich auf bestimmte, vorhersehbare Weise verhalten, genau wie die miteinander verbundenen Zellen in Ihrem Gehirn. Auf der grundlegendsten Ebene bestehen elektrische Schaltkreise und Neuronen aus demselben Material — Atomen und ihren Elementarteilchen —, aber während das menschliche Gehirn bewusst ist, wissen künstliche Geräte nicht, dass sie existieren. Bewusstsein, argumentieren die meisten Wissenschaftler, ist keine universelle Eigenschaft aller Materie im Universum. Vielmehr beschränkt sich das Bewusstsein auf eine Teilmenge von Tieren mit relativ komplexen Gehirnen. Je mehr Wissenschaftler das Verhalten von Tieren und die Anatomie des Gehirns untersuchen, desto universeller scheint das Bewusstsein zu sein. Ein so komplexes Gehirn wie das menschliche Gehirn ist für das Bewusstsein definitiv nicht notwendig. Am 7. Juli dieses Jahres unterzeichnete eine Gruppe von Neurowissenschaftlern an der Universität Cambridge ein Dokument, in dem offiziell erklärt wurde, dass nichtmenschliche Tiere, “einschließlich aller Säugetiere und Vögel und vieler anderer Kreaturen, einschließlich Tintenfische”, bei Bewusstsein sind.
Menschen sind mehr als nur bewusst — sie sind auch selbstbewusst. Wissenschaftler unterscheiden sich hinsichtlich des Unterschieds zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein, aber hier ist eine gemeinsame Erklärung: Bewusstsein ist Bewusstsein für den eigenen Körper und die eigene Umwelt; Selbsterkenntnis ist die Anerkennung dieses Bewusstseins – nicht nur zu verstehen, dass man existiert, sondern auch zu verstehen, dass man sich seiner Existenz bewusst ist. Eine andere Art, darüber nachzudenken: Bewusst zu sein bedeutet zu denken; selbstbewusst zu sein bedeutet zu erkennen, dass Sie ein denkendes Wesen sind, und über Ihre Gedanken nachzudenken. Vermutlich sind menschliche Säuglinge bewusst — sie nehmen Menschen und Dinge um sie herum wahr und reagieren darauf —, aber sie sind sich noch nicht bewusst. In den ersten Lebensjahren entwickeln Säuglinge ein Selbstbewusstsein, lernen, sich im Spiegel zu erkennen und ihren eigenen Standpunkt von den Perspektiven anderer Menschen zu unterscheiden.
Zahlreiche Neuroimaging-Studien haben gezeigt, dass das Nachdenken über uns selbst, das Erkennen von Bildern von uns selbst und das Nachdenken über unsere Gedanken und Gefühle — dh verschiedene Formen des Selbstbewusstseins – die Großhirnrinde, den äußersten, aufwendig faltigen Teil des Gehirns, betreffen. Die Tatsache, dass Menschen im Verhältnis zur Körpergröße eine besonders große und faltige Großhirnrinde haben, erklärt angeblich, warum wir uns selbstbewusster zu sein scheinen als die meisten anderen Tiere.
Man würde also erwarten, dass ein Mann, dem große Teile seiner Großhirnrinde fehlen, zumindest einen Teil seines Selbstbewusstseins verlieren würde. Patient R, auch bekannt als Roger, trotzt dieser Erwartung. Roger ist ein 57-jähriger Mann, der 1980 nach einem schweren Anfall von Herpes—simplex-Enzephalitis – einer durch das Herpesvirus verursachten Entzündung des Gehirns – einen ausgedehnten Hirnschaden erlitt. Die Krankheit zerstörte den größten Teil von Rogers Inselkortex, anterioren cingulären Kortex (ACC) und medialen präfrontalen Kortex (mPFC), alle Hirnregionen, von denen angenommen wird, dass sie für das Selbstbewusstsein wesentlich sind. Etwa 10 Prozent seiner Insula bleibt und nur ein Prozent seiner ACC.
Roger kann sich nicht an vieles erinnern, was ihm zwischen 1970 und 1980 passiert ist, und er hat große Schwierigkeiten, neue Erinnerungen zu bilden. Er kann weder schmecken noch riechen. Aber er weiß immer noch, wer er ist – er hat ein Selbstbewusstsein. Er erkennt sich im Spiegel und auf Fotografien. Für die meisten Menschen scheint Roger ein relativ typischer Mann zu sein, der nicht ungewöhnlich handelt.
Carissa Philippi und David Rudrauf von der University of Iowa und ihre Kollegen untersuchten das Ausmaß von Rogers Selbstbewusstsein in einer Reihe von Tests. In einer Spiegelerkennungsaufgabe zum Beispiel gab ein Forscher vor, etwas von Rogers Nase mit einem Gewebe abzubürsten, das schwarzen Lidschatten verbarg. 15 Minuten später bat der Forscher Roger, sich im Spiegel anzusehen. Roger rieb sofort den schwarzen Fleck auf seiner Nase weg und fragte sich laut, wie er überhaupt dorthin gekommen war.
Philippi und Rudrauf zeigten Roger auch Fotos von sich selbst, von Menschen, die er kannte, und von Fremden. Er erkannte sich fast immer selbst und verwechselte nie jemanden mit sich selbst, aber manchmal hatte er Schwierigkeiten, ein Foto seines Gesichts zu erkennen, wenn es von selbst auf einem schwarzen Hintergrund erschien, ohne Haare und Kleidung.
Roger unterschied auch das Gefühl, sich selbst zu kitzeln, von dem Gefühl, dass jemand anderes ihn kitzelt, und fand letzteres durchweg anregender. Als ein Forscher um Erlaubnis bat, Rogers Achselhöhlen zu kitzeln, antwortete er: “Hast du ein Handtuch?” Wie Philippi und Rudrauf bemerken, zeigt Rogers Schlagfertigkeit, dass er nicht nur ein Selbstgefühl bewahrt, sondern auch die Perspektive anderer annimmt — ein Talent, das als Theorie des Geistes bekannt ist. Er erwartete, dass der Forscher seine verschwitzten Achselhöhlen bemerken würde, und benutzte Humor, um jeder Unbeholfenheit vorzubeugen.
In einer anderen Aufgabe musste Roger mit einer Computermaus ein blaues Kästchen aus der Mitte eines Computerbildschirms in Richtung eines grünen Kästchens in einer der Ecken des Bildschirms ziehen. In einigen Fällen gab ihm das Programm die vollständige Kontrolle über das blaue Kästchen; In anderen Fällen beschränkte das Programm seine Kontrolle. Roger unterschied leicht zwischen Sitzungen, in denen er die volle Kontrolle hatte, und Zeiten, in denen eine andere Kraft am Werk war. Mit anderen Worten, er verstand, wann er für bestimmte Handlungen verantwortlich war und nicht. Die Ergebnisse erscheinen online August 22 in PLOS One.
Angesichts des Nachweises von Rogers weitgehend intaktem Selbstbewusstsein trotz seines verwüsteten Gehirns argumentieren Philippi, Rudrauf und ihre Kollegen, dass der Inselkortex, der anteriore cinguläre Kortex (ACC) und der mediale präfrontale Kortex (mPFC) allein nicht für die bewusste Anerkennung von sich selbst als denkendes Wesen verantwortlich sein können. Stattdessen schlagen sie vor, dass Selbsterkenntnis ein weitaus diffuserer kognitiver Prozess ist, der sich auf viele Teile des Gehirns stützt, einschließlich Regionen, die sich nicht in der Großhirnrinde befinden.
In ihrer neuen Studie weisen Philippi und Rudrauf auf einen faszinierenden Überblick über Kinder mit Hydranenzephalie hin — einer seltenen Erkrankung, bei der flüssigkeitsgefüllte Säcke die Gehirnhälften des Gehirns ersetzen. Kindern mit Hydranorphalie fehlt im Wesentlichen jeder Teil ihres Gehirns mit Ausnahme des Hirnstamms und des Kleinhirns und einiger anderer Strukturen. Ein Licht in der Nähe eines solchen Kinderkopfes zu halten, beleuchtet den Schädel wie eine Kürbislaterne. Obwohl viele Kinder mit Hydranenzephalie bei der Geburt relativ normal erscheinen, entwickeln sie oft schnell Wachstumsprobleme, Krampfanfälle und Sehstörungen. Die meisten sterben innerhalb ihres ersten Lebensjahres. In einigen Fällen leben Kinder mit Hydranenzephalie jedoch Jahre oder sogar Jahrzehnte. Solchen Kindern fehlt eine Großhirnrinde – der Teil des Gehirns, von dem angenommen wird, dass er für das Bewusstsein und die Selbsterkenntnis am wichtigsten ist -, aber, wie das Übersichtsdokument deutlich macht, Zumindest einige hydranenzephale Kinder geben jeden Anschein von echtem Bewusstsein. Sie reagieren auf Menschen und Dinge in ihrer Umgebung. Wenn jemand anruft, werden sie munter. Die Kinder lächeln, lachen und weinen. Sie kennen den Unterschied zwischen Vertrauten und Fremden. Sie bewegen sich zu Objekten, die sie sich wünschen. Und sie bevorzugen einige Arten von Musik über andere. Wenn einige Kinder mit Hydranenzephalie bei Bewusstsein sind, benötigt das Gehirn keine intakte Großhirnrinde, um Bewusstsein zu erzeugen.
Ob solche Kinder wirklich selbstbewusst sind, ist jedoch schwieriger zu beantworten, zumal sie nicht mit Sprache kommunizieren können. In D. Alan Shewmons Rezension zeigte ein Kind eine intensive Faszination für sein Spiegelbild, aber es ist nicht klar, ob er sein Spiegelbild als sein eigenes erkannte. Untersuchungen zur Hydranenzephalie und Rogers Fallstudie deuten jedoch darauf hin, dass das Selbstbewusstsein – dieser scheinbar hoch entwickelte und einzigartige kognitive Prozess, der auf dem Bewusstsein beruht — universeller sein könnte, als wir dachten.
*Wenn Sie diesen Artikel ausgedruckt haben, ein dickes Lob und vielen Dank fürs Lesen!
Merker B (2007) Bewusstsein ohne Großhirnrinde: Eine Herausforderung für Neurowissenschaften und Medizin. Verhaltens- und Hirnwissenschaften 30: 63-81.
Philippi C., Feinstein J.S., Khalsa S.S., Damasio A., Tranel D., Landini G., Williford K.5, Rudrauf D. Erhalt des Selbstbewusstseins nach ausgedehnten bilateralen Hirnschäden an der Insula, anterior cingulat, und mediale präfrontale Kortizes. PLUS EINS. 22. August.
Shewmon DA, Holmes GL, Byrne PA. Bewusstsein bei kongenital dekortikierten Kindern: vegetativer Entwicklungszustand als selbsterfüllende Prophezeiung. In: Dev Med Child Neurol. 1999 Juni;41(6): 364-74.